Von Silke Nierfeld | 11.05.2025 | Lesezeit ca. 9 Minuten

Die Entwicklungstheorie Spiral Dynamics

Spiral Dynamics erklärt die Evolution menschlicher Denk- und Wertesysteme durch ein Stufenmodell zunehmender Komplexität. Die Theorie zeigt, wie sich Weltbilder in dynamischer Anpassung an veränderte Lebensbedingungen entwickeln.

Eine Grafik der neun Entwicklungsebenen, die das Modell Spiral Dynamics vorschlägt

Der Ursprung von Spiral Dynamics

Spiral Dynamics wurde von dem ame­rika­nischen Psy­cho­logen Dr. Clare W. Graves entwickelt. Es ist ein Mo­dell, das die bio­lo­gischpsy­cholo­gischso­ziale Ent­wick­lung des Men­schen in einer Spi­rale immer komplexer werdender Weltsichten / Denkstrukturen be­schreibt.

Kern des Modells ist die Beschreibung der Psychologie des reifen Menschen als einen sich entfaltenden, emergenten (auftauchenden), oszillierenden, spiralförmigen Prozess. Er ist charakterisiert durch die fortschreitende Unterordnung älterer Verhaltenssysteme niedrigerer Ordnung unter neuere Systeme höherer Ordnung, wenn sich die existentiellen Probleme des Menschen verändern.

Die Theorie befasst sich sowohl mit den Triebkräften von Dynamik, als auch mit der Beschreibung chronologischer Entwicklungsstadien. Jedes Stadium ist durch einer bestimmten Art und Weise gekennzeichnet, wie Menschen die Welt sehen, welche Werte (WMme) zentral sind und wie sie sich organisieren.

Die Entwicklungsgeschichte des Modells

Don Edward Beck und Chris­topher C. Cowan wa­ren Schü­ler von Graves und ersetzten den ursprünglichen Titel The emergent, cyclical, double-helix model of the adult human biopsychosocial systems development durch den Na­men Spi­ral Dy­namics. Sie ent­wickel­ten die Theo­rie für die An­wen­dung in Wirt­schaft und Poli­tik weiter.

We­sent­liche Än­der­un­gen wa­ren die Be­nennung der Ebe­nen mit Far­ben statt mit Buch­sta­ben und die Ver­knüpf­ung des Be­griffs der Wert-Meme (WMeme) mit der Lehre von Spiral Dynamics.

Der wissenschaftliche Ansatz

Graves liefert das sozio-psychologische Äquivalent der Darwinschen Anpassung , die man als Auslöser des Äußeren bezeichnen könnte. Als Reaktion auf Veränderungen in der Umwelt treten im Laufe der Zeit Veränderungen in der Biologie der Arten auf. Sie betreffen die Struktur und das Verhalten, sodass alle Merkmale der Veränderung miteinander verbunden sind; das Innere für den einen ist das Äußere für den anderen.

Die Theorie von Graves ist im Wesentlichen ähnlich, da das Auftreten neuer Stufen von Veränderungen im Gehirn begleitet wird. Die Anpassung beschränkt sich nicht nur auf die innere Einstellung, sondern es finden auch hormonelle und neurophysiologische Veränderungen statt, und die Rhythmen der Gehirnwellen verändern sich.

Innen und Außen stehen in einer adaptiven Beziehung. Der Mensch reagiert auf die äußeren Bedingungen und beeinflusst sie seinerseits. Die Beziehung ist also wechselseitig, sie ist ein sich gegenseitiges Informieren.

[Graves erfasst mit seinem Modell nicht die Seinsebene, da diese transrational ist. Sein Verständnis des Inneren bleibt auf das Persönliche beschränkt, so dass er zu dem Schluss kommt, Selbstverwirklichung sei nicht möglich. ]

Kernaussagen der Theorie Spiral Dynamics

AufzählungszeichenDie Entwicklung des Menschen verläuft in Ebenen, die je­weils durch ein ei­genes Werte­system (WMeme) gekennzeichnet, das die Welt­sicht und das Handeln prägt.

AufzählungszeichenDiese Ent­wick­lung unterliegt einer chronologischen Ordnung, alle Men­schen durchlaufen die Stufen in der gleichen Reihenfolge.

AufzählungszeichenDie Stufen wechseln zwischen Selbst­be­haup­tung und Selbstauf­opfer­ung für die Gemein­schaft. Die warmen Farben (beige, rot, orange, gelb) sind ich-zentriert, die kalten Farben (violett, blau, grün, türkis) sind gemeinschaftszentriert.

AufzählungszeichenNeue Ebe­nen werden durch Trans­zen­denz er­reicht, und jede neue Ebene schließt die vor­her­gehenden ein­.

AufzählungszeichenEntwicklung kann entstehen, wenn die Umwelt komplexere Anforderungen an den Organismus (den Menschen) stellt, die neue Bewältigungsmechanismen erfordern. [Diese These von Graves ist nicht haltbar. Bei jedem Menschen stellt sich Unzufriedenheit ein, wenn die Gestaltung des Lebens zu sehr von dem abweicht, was sich die Seele – das Sein – für das Leben vorgenommen hat. Spirituelles Erwachen geht immer von der Seele aus.]

AufzählungszeichenJeweils sechs WMeme bilden eine Bewusstseinsordnung (Tier). Das First-Tier Denken umfasst die WMeme

– beige (instinkiv, archaisch) 
purpur (animistisch, magisch)
– rot (egozentrisch, mythisch)
– blau (autoritär, absolutistisch)
 orange (strategisch, rational)
– grün (konsensorientiert, pluralistisch) 

AufzählungszeichenDie zweite Ordnung dieses Modells beginnt mit dem gelben, integralen WMeme. Integral bezeichnet eine umfassende, integrierende Sicht der Welt. Auf dieser Ebene tritt erstmals die Fähigkeit auf, andere Sichtweisen wertzuschätzen, und gleichzeitig die eigene zu bewahren. Nach Spiral Dynamics umfasst und integriert die gelbe, integrale Ebene die sechs vorhergehenden, ohne eine eigene, komplexere Struktur zu haben.

AufzählungszeichenAuf die gelbe Ebene folgt die türkisfarbene, holistische Ebene. Spiral Dynamics unterliegt einigen Irrtümern hinsichtlich der Seinsebenen und des Second-Tier-Denkens, da es die Ebene der Rationalität nicht überschreitet – eine Denkweise, die immer trennend ist. Holistisches Denken hingegen ist nondual: Es ist Denken jenseits aller Perspektiven. Da wir holistisches Denken unabhängig von Spiral Dynamics erläutern, ist es nicht Bestandteil dieser Artikelserie.

AufzählungszeichenDem türkisen, holistischen WMem soll ein korallenfarbenes folgen. Über dessen Eigenschaften gibt es bisher nur Spekulationen. Das Modell ist nach oben offen, die Entwicklung weiterer Ebenen ist prinzipiell möglich.

Sechs Bedingungen für WMme-Wandel

Damit sich Denkstrukturen oder Werte-Meme wandeln, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:

AufzählungszeichenDas Potenzial für Veränderung muss vorhanden sein.

AufzählungszeichenVergangenheit und Gegenwart müssen geklärt sein – und es muss ein Überschuss an Energie vorhanden sein, um den Wandel zu gestalten.

AufzählungszeichenEs gibt genügend Dissonanz, um Veränderung zu wollen.

AufzählungszeichenHindernisse werden erkannt und aus dem Weg geräumt. Zuerst im Umfeld, dann in der eigenen Denkstruktur.

AufzählungszeichenEs gibt Einsichten in Alternativen und neue Lösungen durch neue Perspektiven auf das Problem.

AufzählungszeichenDie Integration der zuvor differenzierten Aspekte führt zur Stärkung.

Sieben Arten der Veränderung

Spiral Dynamics beschreibt sieben Arten der Veränderung, von der Feinabstimmung bis zum großen Sprung. Grundsätzlich sind sowohl Aufwärts- als auch Abwärtsbewegungen möglich, die horizontal, diagonal oder vertikal verlaufen können.

Fünf Phasen des Veränderungsprozesses

Bei der Transformation von einer Entwicklungsstufe zur nächsten unterscheidet Spiral Dynamics fünf typische Phasen:

AufzählungszeichenAlpha: Stabil und im Gleichgewicht

AufzählungszeichenBeta: Zeit der Unsicherheit und Infragestellung

AufzählungszeichenGamma: Zeit des Ärgers, der Angst und der Verwirrung

AufzählungszeichenDelta: Inspirierte Begeisterung

AufzählungszeichenAlpha neu: Stabilität auf der neuen Entwicklungsstufe

Meine Forschung deutet darauf hin, dass der Mensch lernt, dass Werte und Lebensweisen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung gut für ihn waren, aufgrund der veränderten Bedingungen seiner Existenz nicht mehr gut sind.

Clare W. Graves

Die Charakteristika der First-Tier WMeme

AufzählungszeichenDie erste Stufe (beige) ist rein instinktiv, es geht um das physische Überleben.

AufzählungszeichenDie zweite Stufe (violett) ist animistisch. Die Menschen glauben an Geister und suchen Sicherheit in der Zugehörigkeit zu einem Stamm.

AufzählungszeichenAuf der dritten Stufe (rot) steht der Egoismus im Mittelpunkt. Es geht um Macht, Durchsetzungsvermögen und Ausbeutung.

AufzählungszeichenDie vierte Stufe (blau) stellt dem Egoismus des roten WMems eine absolutistische Ordnung gegenüber. Hier geht es um Autorität, Wahrheit und Sinn. Blaue Strukturen sind typisch für Religionsgemeinschaften und Staatsapparate wie Polizei oder Militär.

AufzählungszeichenMit der strategischen, fünften Stufe (orange) werden Autonomie, Erfolg, Materialismus und Wissenschaft zu zentralen Themen. Hier blühen Kapitalismus und technischer Fortschritt.

AufzählungszeichenDie relativistische, sechste Stufe (grün) will die Schattenseiten von orange durch Gleichheit, Harmonie und Gemeinschaftsgefühl ausgleichen. Das grüne WMeme strebt nach Selbstaktualisierung und innerem Wachstum.

AufzählungszeichenMit der integralen, siebten Stufe (gelb) entsteht die Fähigkeit, die intersubjektiven Strukturen jeder Ebene zu erkennen und sich fließend zwischen ihnen zu bewegen. [Warum wir die gelbe Stufe als First-Tier auflisten, erklären wir im nächsten Abschnitt.]

Die Bewusstwerdung der Innerlichkeit – des Seins jenseits des Denkens – ist dem Menschen jederzeit möglich. Sie ist nicht an Denkstrukturen und Wertesysteme gebunden, denn sie folgt einer anderen Entwicklungslinie als der kognitiven. Diese führt von der körperlichen Empfindung über eine Verfeinerung des Nervensystems zur geistigen Intuition, dem empfangenden, synchronistischen Denken mit der Seele (wahres Selbst).
Selbstverwirklichung, von C. G. Jung als Individuation beschrieben, ist ein Prozess, der die Identifikation mit dem Denken auflöst, so dass der Mensch in der Wirklichkeit lebt und nicht in seinen Konstruktionen davon. Jedes Denken ist konditioniert, nur ein freier Geist kann erkennen, was wirklich ist. Das Wesen des Second-Tier Denkens hat Spiral Dynamics nicht erfasst.

Der Wechsel zum Second-Tier

Spiral Dynamics bezeichnet die integrale, gelbe Ebene als die erste Stufe des zweiten Ranges – des geistigen Bewusstseins. Zu dieser Schlussfolgerung kann jedoch nur gelangen, wer selbst nicht im Second-Tier-Bewusstsein verankert ist. Clare W. Graves machte keinen Hehl daraus, dass er sich selbst im First-Tier verortete. Er betonte außerdem mehrfach, dass es Menschen im First-Tier grundsätzlich unmöglich ist, das Bewusstsein des Second-Tier wirklich zu erfassen.

Die Beschreibung des Second-Tier-Bewusstseins erfolgt bei Graves aus einer First-Tier-Perspektive. Sein grundlegender Irrtum besteht darin, höhere Werte wie das Wohlergehen des Planeten als Ausdruck geistigen Bewusstseins zu interpretieren. Tatsächlich bleibt die Wertorientierung eine Funktion der Perspektive – und damit des dualistischen Denkens. Geistiges Bewusstsein jedoch kennt keine Relationen und keine Bewertungen: Es erkennt die Absolutheit allen Seins. Werte wie Liebe, Frieden und Ganzheit können nicht gedacht, sondern nur verkörpert und verwirklicht werden.

Weder das gelbe noch das türkise WMeme in der Schilderung von Spiral Dynamics beziehen sich auf das Sein. Sie sind Denkstrukturen des Intellekts, die über das konkrete Denken des Verstandes hinausgehen. Es handelt sich also um eine höhere Ebene des Denkens, aber nicht um geistiges Bewusstsein, das Nondualität voraussetzt.

Das Bewusstsein der ungeteilten, untrennbaren Einheit des Seins, führt zur Freiheit von allen Wertesystemen – und zur Aufgabe des Eigenwillens. Man erkennt sich Teil, als Holon des Ganzen, dessen höheren Willen man zu erfüllen sucht.

Fehler im Umgang mit Spiral Dynamics

Ein häufiger Fehler im Umgang mit Spiral Dynamics besteht darin, komplexere Ebenen grundsätzlich als besser zu bewerten. Zwar bietet die zunehmende Komplexität eine größere Handlungsvielfalt, doch entscheidend ist vor allem die Angemessenheit in der Interaktion mit der Umwelt.
Hätten Politiker verstanden, dass imperialistische Denkstrukturen (rot) nur mit stabilen, soliden Blau-Werten begegnet werden kann, wären sie nicht der Illusion erlegen, Wandel durch Handel (orange) herbeiführen zu können.

Fazit zum Entwicklungsmodell Spiral Dynamics

Spi­ral Dy­namics beschreibt intersubjektive Realitäten, die unbewusst in Form von WMemen auf Menschen und Systeme einwirken. Die Stufen und Unterschiede des First-Tiers werden überzeugend dargestellt. Die zentrale Erkenntnis des Modells ist, dass Menschen im First-Tier ihre relative Weltsicht absolut setzen.

Die Darstellung des Second-Tier-Denkens in Spiral Dynamics beschränkt sich auf äußere Strukturen und lässt die innere Dimension des Seins unberücksichtigt. Dies führt zu einer Reduktion von Veränderungsimpulsen auf äußere Faktoren. Tatsächlich aber ist das Sein – die Seele – der Komponist und Dirigent des Lebens, wenn auch verborgen im Hintergrund.

Insiderooms – The Essence of Transformation

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Quellen: Spiral Dynamics von Beck und Cowan,  Clare W. Graves: Sein Leben, Sein Werk von Rainer Krumm und Benedikt Parstorfer